Der perfekte Laufschuh

Es war einmal ein Zen-Meister, der lief für sein Leben gern.

Eines Tages kam es ihm in den Sinn, den vollkommenen Laufschuh selbst herzustellen. Nachdem er sich darüber klar geworden war, dass bei einem perfekten Werk die Zeit nicht in Betracht komme, sprach er zu sich selbst: „Mein Schuh soll in jeder Beziehung vollkommen werden, selbst wenn ich sonst nichts mehr in meinem Leben tun sollte.“ Sogleich bestellte er sich das beste Material, das es zu haben gab und machte sich an sein Werk.

Doch noch während er die Sohle herstellte, verließen ihn alle seine Freunde, denn sie wurden alt über ihrer Arbeit und starben, er aber wurde nicht um einen Augenblick älter. Die Einfachheit seines Vorhabens und Entschlusses bewirkten, ohne dass er es merkte, ewige Jugend. Da er mit der Zeit keinen Pakt machte, so blieb sie aus seinem Wege und seufzte nur aus der Ferne nach ihm, weil sie ihm nichts anhaben konnte.

Ehe er die Sohle fertig gestellt hatte, gab es den Berlin-Marathon nicht mehr, ehe er sich daran machte den zweiten Teil des Schuhs herzustellen, waren die Dynastien der kenianischen Wunderläufer zu Ende gegangen. Der Zen-Meister aber ließ sich in seiner Arbeit nicht irritieren. Und ehe er die Schuhbänder ausgewählt hatte, gab es keine Olympischen Spiele mehr und keine Läufer und keinen Polarstern.

Als er die letzte Hand an seinen Laufschuh legte, da breitete sich sein Werk vor den Augen des erstaunten Zen-Meisters zur schönsten aller Schöpfungen aus. Er hatte ein neues Weltsystem geschaffen, indem er einen Laufschuh gestaltete, eine Welt des reinsten Ebenmaßes, der pursten Ästhetik. Und jetzt sah er an der Menge der übrig gebliebenen Restteile, dass für ihn und seine Arbeit das frühere Verrinnen der Zeit eine Täuschung gewesen und nicht mehr Zeit vergangen war, als nötig ist, dass ein Funken aus dem Haupte Brahmas herabfalle und den Zunder eines Menschengehirns in Brand setze. Das Material war rein und seine Arbeit war rein, Wie konnte das Ergebnis anders sein als wunderbar?

(Dr. Günter Heidinger frei nach H.D. Thoreau)

Dr. Günter Heidinger